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„Hier herrscht ein tiefes Gefühl der Verwundbarkeit“.

Die drei stellv Bürgermeister mit dem deutschen Botschafter in Lettland, Christian Heldt.

Delegation aus Rheine sammelte beeindruckende Erkenntnisse in Riga (Lettland)

RIGA/RHEINE. Bikernieki – ein schöner Kiefernwald in einem Erholungsbiet am Rande von Riga. Vögel zwitschern, Spaziergänger genießen die Ruhe und die saubere Luft. Ein Denkmal, das wie eine Kapelle anmutet, und viele hundert in den Boden eingelassene Granitsteine erinnern jedoch an die grausame Geschichte dieses Ortes. Vor 81 Jahren wurden hier zehntausende Juden von Soldaten des NS-Kommandos Arajs erschossen und in Gruben „entsorgt“. Der Gedenktag, der an den Anfang des lettischen Holocaust erinnern sollte, war eigentlich im vergangenen Jahr geplant. Wegen der Pandemie musste er auf 2022 verschoben werden.

Eingeladen hatte das Deutsche Riga-Komitee. Ein Städtebündnis, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, an die Deportation und Ermordung der Juden zu erinnern. Auch aus Rheine wurden in Riga 15 Juden ermordet. Sie waren im Dezember 1941 mit dem so genannten „Bielefelder Transport“ ins Baltikum gebracht worden – gemeinsam mit 390 Juden aus dem Münsterland. Von Ahaus bis Wolbeck reicht die Auflistung der 39 Städte des Münsterlandes, aus denen systematisch Menschen jüdischen Glaubens in die Waggons gezwungen wurden. Rund zwei Dutzend Städte aus dem Münsterland haben sich seit 2001 dem Riga-Komitee angeschlossen, die Stadt Rheine seit 2015.

„Geschichte geht nicht einfach vorüber. Man beschäftigt sich ganz anders mit der deutschen Geschichte, wenn man an diesem Ort war“, sagte der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Lettland, Christian Heldt, anlässlich der Gedenkveranstaltung. Denn nach den nationalsozialistischen Gräueltaten folgte sie sowjetische Besatzungszeit.

Und wieder erlangte der nahe gelegene Bahnhof Skirotava, wo 1941 und 1942 die Waggons mit den deportierten Juden ankamen, traurige Bekanntheit: Diesmal fuhren die Züge von dort in Richtung Sibirien.

„Das waren ganz tiefe Traumata. Die Geschichte ist hier noch ganz tief im Bewusstsein der Menschen präsent“, sagte Heldt weiter. Und daher sei auch seit dem 24. Februar, dem Beginn des militärischen russischen Überfalls auf die Ukraine, „nicht mehr wie früher“. „Die Letten, die Esten und auch die Litauer sagen sich: Das könnten auch wir sein“, berichtete der Botschafter. Seit der Erlangung der Unabhängigkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrsche ohne ein dumpfes Grundgefühl vor. Heldt wörtlich: „Hier herrscht ein tiefes Gefühl der Verwundbarkeit“.

Der Krieg in der Ukraine war auch beherrschendes Thema bei einem Gespräch mit dem Rigaer Bürgermeister Martins Stakis. „Mein Herz blutet. Die Ukraine kämpft für uns“, sagte der sympathische 43-Jährige, der zuvor Staatssekretär im Verteidigungsministerium gewesen war. 100 Flüchtlinge kämen jeden Tag neu an. Und auch die hybride Kriegsführung macht Sorgen: „Die Propaganda der Russen macht ihren dreckigen Job – Tag für Tag“.

Die Delegation des Rita-Komitees nahm an der offiziellen Gedenkveranstaltung zum lettischen Holocaust-Gedenktag am 4. Juli teil. Dort sprachen unter anderem der lettische Staatspräsident Egils Levits, die Parlamentspräsidentin Inara Murciene und Verteidigungsminister Artis Pabriks.Alle wiesen auf die Bedeutung der Erinnerung an das grausame Geschehen hin – und zwar als „eine Art Immunisierung gegen den Wiedereinzug dieses Gedankenguts“, wie es die israelische Botschafterin nannte.

Vom 3. bis 5. November findet ein Symposium des Riga-Komitees in Rheine statt. Dabei geht es auch um Formen des Gedenkens und die Einbeziehung junger Menschen. Stellvertretender Bürgermeister Fabian Lenz lud bei einem Empfang der deutschen Botschaft im traditionsreichen Gildenhaus die Mitgliedsstätte des Riga-Komitees nach Rheine ein.

Zum Thema: Riga-Komitee

Das Deutsche Riga-Komitee war im Jahr 2000 in Berlin unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Johannes Rau als erinnerungskultureller Städtebund gegründet worden. Ihm gehören u.a. die Städte Brünn, Prag, Riga, Wien und Theresienstadt an. Seine Aufgabe: an die über 25000 Juden zu erinnern, die in den Jahren 1941 und 1942 aus ihren Städten nach deportiert, und die überwiegend in den Wäldern von Bikernieki ermordet wurden. Sehr engagiert war der ehemalige münsteraner Bundestagsabgeordnete Winfried Nachwei, der mit einigen anderen Forscher 1989 auf die „Blutspur des Nationalsozialismus in Riga“ gestoßen war. Heute gehören dem Komitee mehr als 70 Städte an.

Statement der drei stellv. Bürgermeister Birgitt Overesch, Karl-Heinz Brauer und Fabian Lenz:

„Gemeinsam mit rund 50 weiteren Mitgliedern des Riga-Komitees haben wir uns in diesen Tagen sehr intensiv mit der Geschichte der Judenverfolgung in der Nazizeit, mit der dreimaligen Okkupation Lettlands im 20. Jahrhundert sowie mit der aktuellen Situation Lettlands mit dem Ukrainekrieg beschäftigt.

Der Austausch zwischen den Gastgebern aus Lettland und den deutschen und österreichischen Delegationen war sehr intensiv und sehr wertvoll.

Wir haben viele Ideen für die Erinnerungsarbeit in Rheine und für unsere Arbeit als Mitglied des Riga-Komitees mitgenommen. Wir haben aber auch gesehen, wie viel noch zu tun ist.

Die Reise hat uns einmal mehr für die Erinnerungsarbeit sensibilisiert, und wir freuen uns darauf, viele der Mitreisenden auf dem Riga-Symposium in Rheine im November wiederzusehen, um an den gemeinsamen Themen weiter zu arbeiten.“